Jennifer Fest & Vanja Schneider, 24.01.2023
Aktuell sehen wir uns als Gesellschaft einer ganzen Reihe von Herausforderungen gegenüber. Zum einen ist der Klimawandel eine omnipräsente und langfristige Gefahr, die nur mit Mitarbeit aus allen Bereichen abgefangen werden kann. Zum anderen machen kurzfristigere Krisen wie Lieferengpässe und Inflation vielen Branchen große Probleme.
Man kann diesen Aspekten mit gezielten Maßnahmen entgegentreten, die kurz- oder auch mittelfristig Entlastung schaffen – wirkliche Lösungen finden wir jedoch nur dann, wenn wir das große Ganze betrachten und auch die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gefahren sehen. Es gilt, nicht nur zu reagieren, wenn Probleme aufkommen, sondern unser Handeln schon von Beginn an so auszurichten, dass solche Krisen gar nicht erst entstehen. Auch die Bau- und Immobilienwirtschaft muss sich mit vorausschauenden Herangehensweisen beschäftigen und kommt in diesem Bemühen immer wieder auf das Cradle to Cradle®-Prinzip (C2C) zurück.
- Was bedeutet Cradle to Cradle?
- Was sind Hürden, was macht Hoffnung?
- Wie bauen wir in Zukunft?
Cradle to Cradle vs. Cradle to Grave
2021 berichtete die BBC, dass jährlich 100 Milliarden Tonnen Rohmaterial aus der Natur abgebaut werden, wovon rund die Hälfte in die Bau- und Immobilienwirtschaft wandert. Ebendiese generiert wiederum ca. ein Drittel des weltweiten Abfalls und rund 40% der globalen Kohlendioxidemissionen (Miller, 2021). Alles in allem wird durch Bauen, Abreißen und neu Bauen so viel Abfall angehäuft, dass zahlreiche Wissenschaftler:innen bereits von einer neuen geologischen Epoche sprechen, dem Anthropozän, geprägt durch menschengemachten Abfall und die damit einhergehenden klimatischen und ökologischen Veränderungen (National Geographic Society, 2022).
Konventionelle Bauansätze tragen massiv zu diesen Veränderungen bei, da sie in der Regel nicht von der Wiederverwertbarkeit der genutzten Materialien ausgehen. Rohstoffe werden beim Bau neuer Gebäude verbraucht – und bei einem Abriss als Abfall entsorgt, weshalb man auch von Cradle to Grave-Verfahren (übersetzt: von der Wiege ins Grab) spricht.
Solche Vorgehensweisen tragen zu gleich mehreren Problemen gleichzeitig bei. Einerseits besteht ein kontinuierlicher Bedarf an neuen Rohstoffen, die abgebaut, verarbeitet und transportiert werden müssen, was die Eingriffe in die Natur verstärkt, die Energiekosten in die Höhe treibt und, wie aktuell, zu Lieferengpässen führen kann. Andererseits entstehen die oben genannten massiven Mengen an Abfall, die unsere Umwelt prägen und schädigen.
Cradle to Cradle® (übersetzt: von der Wiege in die Wiege) bietet eine andere Perspektive auf den Umgang mit Rohstoffen. Der Ansatz, der 2002 von William McDonough und Michael Braungart entwickelt wurde, präsentiert die Vision eines Materialkreislaufs, bei dem die Zerlegbarkeit eines Produktes (bzw. die Rückbaubarkeit bei Immobilien) und die Weiternutzung der Materialien im Mittelpunkt stehen. Die jeweiligen Produkte können als „Zwischenlager“ angesehen werden – sie binden die Rohstoffe so lange, wie sie selbst existieren. Anschließend wird alles entweder durch Wiederverwendung (Reuse), Wiederverwertung (Recycling) oder Weiterverwertung (Up-/Downcycling) in den Materialkreislauf zurückgespeist. Bei einer hundertprozentigen Umsetzung dieses Verfahrens würde somit kein neuer Abfall entstehen und der Bedarf an neuen Rohstoffen sowie Produktionsprozessen würde drastisch sinken.
Grundsätzlich ist das C2C-Prinzip auf alle Produkte anwendbar. Unterschieden wird in der Regel zwischen dem biologischen Kreislauf für Verbrauchsgüter und dem technischen Kreislauf für Gebrauchsgüter. Während erstere aus natürlichen, biologischen Komponenten bestehen und nach Benutzung als Kompost wieder in die Natur zurückgeführt werden können, werden Produkte im zweiten Kreislauf künstlich hergestellt und müssen nach ihrer Verwendung zerlegt werden, damit die Ausgangsstoffe recycelt werden können (McDonough et al., 2003, 436; Mulhall & Braungart, 2010, 125). Wichtig hierbei ist, dass schon bei der Herstellung der Produkte darauf geachtet wird, dass diese am Ende möglichst einfach und sortenrein zerlegt werden können.
Mit wachsender Beliebtheit der C2C-Methode etablierte sich das Non-Profit-Institut Cradle To Cradle Products Innovation Institute, das seit 2010 auch eine Zertifizierung für C2C-Produkte anbietet.
Cradle to Cradle im Bau – Wo wir stehen
Auch Gebäude sind erst einmal Produkte, die hergestellt werden. Der Cradle to Cradle-Ansatz ist deshalb auch in der Baubranche auf fruchtbaren Boden gefallen und bietet viele Möglichkeiten; er bringt jedoch auch viele Fragen mit sich, die es zu beantworten gilt, bevor C2C in größerem Maßstab umgesetzt werden kann. Nicht wenige davon betreffen rechtliche Aspekte: Wem gehören eigentlich die Materialien, wenn sie immer wieder neu genutzt werden können und Immobilien nur als Materialdepot dienen? Wie berechnet sich der Wert eines Gebäudes, wenn die Rohstoffe nachher weiterverwendet werden? Wie leiten sich die tatsächlichen Werte der Rohstoffe ab? Wie sehen Verträge aus, wenn Rohstoffe nicht nur ausgeliefert, sondern auch zurückgenommen werden sollen? (vgl. Schneider, 2022, 29)
Neben diesen juristischen Punkten kommen Aspekte der Logistik hinzu: Wo werden Materialien, die gerade nicht gebunden sind, gelagert? Wie können große Mengen transportiert werden? Und wie verändern sich die Stoffe eventuell während der Lagerung?
Nicht zuletzt ist natürlich auch die Kostenfrage entscheidend: Aktuell ist kreislauffähiges Bauen noch mit höheren Kosten verbunden als herkömmliches Bauen, da C2C-spezifische Kosten politisch (noch) nicht gefördert werden und Materialhersteller oft noch Monopolstellungen halten. Zudem wird weit mehr Expertise benötigt, da neben Architekt:innen und Bauingeneur:innen oft auch Bereiche wie Chemie oder Biologie bei Projekten involviert sind.
Aufgrund der neuen EU-Taxonomieverordnung von 2020 (Europäische Union, 2020), die sich hervorragend mit den C2C-Prinzipien ergänzt, findet das Thema mittlerweile aber politische Aufmerksamkeit und wird präsenter. In naher Zukunft sind höhere Förderungen für nachhaltiges Bauen wahrscheinlich, sodass die Anwendung entsprechender Ansätze attraktiver wird. Leider droht hiermit aber auch ein neuer Schwung Bürokratie und die Gefahr, dass „mit steigendem Bedarf an Nachhaltigkeitsaspekten die Komplexität an Nachweisen und der Bedarf an Zertifikaten deutlich zunimmt“ (Schneider, 2022, 32).
Aufgrund dieser Hürden nimmt Cradle to Cradle in der deutschen Bau- und Immobilienwirtschaft bisher eher langsam Fahrt auf. Trotzdem lassen sich Pilotprojekte ausmachen, die nicht nur zeigen, dass und wie es geht, sondern die in den kommenden Jahren auch wertvolle Daten zur Praxis liefern werden. Bisher sind ausschließlich öffentliche und gewerbliche Gebäude dabei, so zum Beispiel das Kreislaufhaus auf Zeche Zollverein in Essen oder das Bürogebäude The Cradle in Düsseldorf.
C2C attraktiver machen
Was also kann getan, welche Maßnahmen ergriffen werden, um die dringend benötigte Bauwende voranzutreiben und C2C attraktiver zu machen? Wichtige Impulse und richtungsweisende Entscheidungen können sicherlich am ehesten aus der Politik kommen. Finanzielle Förderungen sowie aktualisierte Bestimmungen zu Gebäudewerten und Rohstoffhandel würden große Hürden abbauen. Gleichzeitig muss der bürokratische Aufwand überschaubar bleiben; wenn das tatsächliche Bauen zwar günstiger, der Verwaltungsaufwand aber größer und somit teurer wird, ist wenig bis gar nichts gewonnen. Andere Probleme werden durch die vermehrte Anwendbarkeit angegangen. Wenn die Nachfrage nach C2C-konformen Materialien steigt, wird auch die Monopolstellung der Hersteller durch eine Vergrößerung des entsprechenden Marktes geschwächt. Zudem helfen die zukünftigen Daten der laufenden C2C-Projekte, noch genauer zu planen und einem restlosen Materialkreislauf immer näher zu kommen.
Nicht zuletzt müssen aber natürlich auch die Branche selbst sowie die Nutzer:innen die Bereitschaft mitbringen, sich auf neue Konzepte einzulassen. Vor allem in Deutschland werden Gebäude immer noch nach höchsten Komfortansprüchen und vor allem für extreme Wettersituationen gebaut. Wir müssen bereit sein, Abstriche zu machen – dann sind wir einen großen Schritt näher an nachhaltigem Bauen (Schneider 2022, 32).
Weitermachen lohnt sich – aber was bedeutet das?
Auch wenn wir noch weit von einer flächendeckenden Anwendung kreislauffähigen Bauens entfernt sind, ist jeder kleine Baustein wichtig – denn kaum eine Branche kann so viel verändern, wie die Bau- und Immobilienwirtschaft. Dabei geht es nicht nur darum, Umweltverschmutzung und -belastung zu reduzieren, sondern Gebäude zu schaffen, die der Natur tatsächlich helfen. Das klingt im ersten Moment utopisch, ist aber absolut realistisch, wenn man es richtig angeht. Unsere Schwesterfirma Moringa baut aktuell in der Hamburger HafenCity das erste Cradle to Cradle-Wohnhaus Deutschlands, und macht vor, wie es laufen kann!

„Moringa“ besteht aus drei Baukörpern und wird am Ende rund 20.000m² BGF aufweisen, wovon 17.700m² auf Wohnflächen fallen. 30% davon werden öffentlich gefördert sein und somit bezahlbaren Wohnraum in bester Lage stellen. Hinzu kommen Gemeinschaftsflächen, Co-Working-Areale, eine Kita und Gastronomie, die das Gebäude zu einem sozialen Raum werden lassen, der über reines Wohnen hinausgeht und gleichzeitig den Pro-Kopf-Flächenverbrauch in der Stadt senkt. Um das Gebäude kreislauffähig zu machen, werden zu 70% wiederverwertbare Materialien benutzt, die bei einer Zerlegung des Gebäudes weitergenutzt werden können.
Aber auch während des laufenden Betriebs hinterlässt Moringa nur einen denkbar kleinen ökologischen Fußabdruck: Der Energieverbrauch wird weitestgehend aus erneuerbaren Energiequellen bezogen. Das Regenwasser wird gesammelt und in den Grauwasserkreislauf eingebracht, um damit die Wasserverbräuche zu reduzieren. Eine großflächige Fassadenbegrünung schützt den Innenraum vor direkter Sonneneinstrahlung und ist nicht nur einladend für Insekten, sondern kühlt den Wohnraum sowie auch die Umgebung des Gebäudes. Insgesamt wird dem Grundstück in Summe der Fassaden-, Dach und Innenhofbegrünung mehr Biomasse zurückgegeben als es theoretisch weggenommen werden würde. Moringa will damit eine sichtbare Antwort auf die zunehmende Versiegelung von Grundstücken in Stadtgebieten liefern. In diesem Kontext wird Moringa in regelmäßigen Abständen auch wissenschaftlich begleitete Untersuchungen der Luftqualität und Temperatur durchführen lassen, um Erkenntnisse für künftige Grünfassaden daraus abzuleiten.
Die Krise als Chance
Ist Cradle to Cradle nun die Lösung für alle Probleme? Nein, natürlich nicht. Aber es ist ein möglicher Ansatz, der viele Vorteile mit sich bringt, da er sinnvolle Antworten auf die Vermeidung von Abfallaufkommen, Ressourcenverschwendung und CO2-Reduktion beisteuert. Unsere Wertschöpfungskette basiert leider immer noch auf dem Verständnis, dass Produkte einfach entsorgt werden können, wenn wir sie nicht mehr brauchen, doch unsere Rohstoffe sind endlich und werden stetig weiter dezimiert. Kreislaufwirtschaft bietet eine neue Perspektive, aber es liegt an der Gesellschaft, daraus auch ein neues Verständnis abzuleiten.
C2C geht sogar noch einen Schritt weiter, denn es ist nach der Definition der EPEA Umweltforschung nicht nur auf Kreislauffähigkeit beschränkt. In der ganzheitlichen Anwendung betrachtet C2C auch Aspekte der Biodiversität, Gesundheit und Schadstofffreiheit sowie soziale Integrität. In dieser Konsequenz ist es eine „Königsdisziplin der Nachhaltigkeit“. Trotz dieser Betitelung braucht eine solche Entwicklung Zeit. Die aktuelle Krise beschleunigt die Auseinandersetzung mit dem Thema, sodass C2C nun seine Vorteile ausspielen kann. Der Ansatz kann uns nicht über Nacht retten – doch er ist ein wichtiger Schritt Richtung Klimaneutralität und zur Vermeidung zukünftiger Krisen.
- Braungart, M., & McDonough, W. (2002). Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things. North Point Press.
- Europäische Union. (2020). EUR-Lex. Abgerufen am 28. November 2022. Link
- McDonough, W., Braungart, M., Anastas, P. T., & Zimmerman, J. B. (2003). Applying the Principles of Green Engineering to Cradle-to-Cradle Design. Environmental Science & Technology, 434–441.
- Miller, N. (2021, Dezember 16). The industry creating a third of the world’s waste. BBC Future. Abgerufen am 28. November 2022. Link
- Mulhall, D., & Braungart, M. (2010). Cradle to Cradle criteria for the built environment. Ekonomiaz, 75(3), 122-132.
- National Geographic Society. (2022, Mai 20). Anthropocene. Abgerufen am 28. November 2022. Link
- Schneider, V. (2022). Wir sind noch lange nicht da, wo wir längst sein müssten. IMMOZEIT, 32(1), 28-33.